AUS HOLZ GEBAUT
Von der Notkirche zum Begegnungszentrum

Die Geschichte der sogenannten „Holzkirche“ beginnt nicht hier, am Hang des Kap-pelbachs, sondern auf dem östlichen Kaßberg. Fast sechzig Jahre lang, von 1949 bis 2008, hatte sie an der Kaßbergstraße ihren Standort. Doch die Vorgeschichte be-ginnt eigentlich schon viel früher, nämlich im 19. Jahrhundert. Es ist eine spannende und nicht alltägliche Geschichte, die sich mit diesem besonderen Bauwerk verbindet. Lassen Sie uns deshalb einen kleinen Blick in die Vergangenheit werfen:

1875 – Erste freikirchliche Gemeinde in Chemnitz

Im 19. Jahrhundert kam es innerhalb der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens wiederholt zu Spannungen und Differenzen. Manche Gemeindeglieder befürchteten ein Aufweichen der biblischen Grundlagen. Die Kirchenleitung hatte dafür allerdings kein Verständnis. So bildete sich 1872 die erste unabhängige Evangelisch-Lutherische Freikirche mit Standorten in Dresden und Planitz bei Zwickau. Auch in Chemnitz kam es 1875 zur Gründung einer freikirchlichen Gemeinde. Sie nannte sich „Separierte evangelisch-lutherische Dreieinigkeitsgemeinde unveränderter Augsburgischer Konfession“. Man traf sich zunächst in gemieteten Räumen im Stadtzentrum, die jedoch schnell zu klein wurden. Eine eigene Kirche wurde dringend gebraucht. In dieser Zeit lief die Erschließung des Kaßbergs auf Hochtouren. Hier konnte die Gemeinde im April 1882 ein Grundstück an der Kreuzung von Weststraße und Kaßbergstraße kaufen.

1883 – Die Dreieinigkeitskirche wird gebaut
Die Pläne für die Dreieinigkeitskirche entwarf der Chemnitzer Architekt Friedrich Au-gust Gräser gemeinsam mit Professor Alwin Gottschaldt. Es handelte sich um eine ansprechende Saalkirche in neugotischen Formen, die mit ihrem 32 Meter hohen Turm schnell zu einem Wahrzeichen des neuen Stadtteils wurde. Im Inneren fanden 400 Personen Platz. Nach einem knappen Jahr Bauzeit konnte die neue Kirche am 24. Juni 1883 eingeweiht werden. Hier entwickelte sich bald ein reges Gemeindeleben, in das auch viele Vereine vom Chor bis hin zum kirchlichen Turnverein eingebunden waren.
1945 – Zerstörung von Stadt und Kirche

Im Frühjahr 1945 wurde Chemnitz durch mehrere Bombenangriffe schwer getroffen. Am Abend des 5. März gingen das Stadtzentrum und die umliegenden Wohn- und Industrieviertel in Flammen auf. Auch der Kaßberg trug schlimme Zerstörungen davon. Zu den ausgebrannten Gebäuden zählten auch Pfarrhaus und Kirche der Dreieinigkeitsgemeinde. Nur die Umfassungsmauern waren stehen geblieben.

1949 – Eine Notkirche aus Holz
Mit diesem tiefen Einschnitt beginnt die Geschichte der sogenannten „Holzkirche“. Zutreffender ist eigentlich der Begriff „Notkirche“, denn das Bauwerk ist aus der Not der Zeit heraus entstanden und war eigentlich nur als zeitlich befristetes Provisorium gedacht. Der Gemeinde war es zwar gelungen, die Trümmer wegzuräumen und die Ruine der Dreieinigkeitskirche zu sichern. An einen Wiederaufbau war jedoch unter den Bedingungen der Nachkriegszeit nicht zu denken. Es fehlte an allem. Also musste Ersatz geschaffen werden. Improvisation war in allen Bereichen gefragt – auch im Leben der Kirchengemeinden. So entstanden an vielen Orten sogenannte „Notkirchen“. Sie waren aus einfachen Materialien erstellt und ließen sich rasch mon-tieren. Ein spezielles Notkirchen-Bauprogramm hatte das Evangelische Hilfswerk aufgelegt: Der Heidelberger Architekt Otto Bartning entwickelte dafür ein Serienmo-dell, mit dem knapp 50 Gemeinden in Deutschland versorgt wurden. Finanziert wurde das Programm von internationalen kirchlichen Organisationen, vor allem aus der Schweiz und den USA. Auch in Chemnitz steht bis heute eine solche Bartning-Notkirche: Die Gnadenkirche im Stadtteil Borna. Auch die Dreieinigkeitsgemeinde erhielt im Jahre 1949 eine Notkirche allerdings nicht aus der berühmten Bartning-Serie. Aber vom Prinzip her sind beide vergleichbar: Eine industriell vorgefertigte hölzerne Hallenkonstruktion, die montagefertig geliefert wurde. Die Gemeinde hatte für die massiven Bauteile Fundamente, Altarraum, Sakristei, Heizvorrichtungen zu sorgen. Auf Eigeninitiative wurde damals großer Wert gelegt, denn damit sollte das Zusammengehörigkeitsgefühl vor Ort und die Integration von Heimatvertriebenen gefördert werden, die auch in großer Zahl zur Chemnitzer Gemeinde strömten. Das Grundgerüst des Bauwerks bilden sechs hintereinander angeordnete Dreigelenkbinder mit dazwischen eingespannter Wand- beziehungsweise Deckenschalung. Die nach oben spitzbogig zulaufende Deckenkonstruktion in Form eines Tonnengewölbes verleiht dem Raum eine überraschende Weite. Den Übergang zum halbrund geschlossenen Altarraum vermittelt ein Spitzbogen. Damit wurde der sakrale Charakter hervorgehoben und durch die ornamental bemalten Wände sowie die farbig verglasten Fenster zusätzlich betont. Über dem Eingang war eine kleine Empore angeordnet. Ein einfaches Kreuz an der Giebelseite machte auf den Bestimmungszweck des Gebäudes aufmerksam. Neben den Modulen für die hölzerne Grundkonstruktion wurden auch alle anderen Bauteile nach Chemnitz geliefert, eingelagert und während dieser Zeit von den Gemeindegliedern bewacht, um sie vor Diebstahl zu schützen. Woher die Baustoffe kamen, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit belegen. Die Finanzierung übernahmen lutherische Christen aus den USA und Australien. Daher wurde die kleine Kirche in der Gemeinde als ein „Geschenk“ der besonderen Art wahrgenommen. Die Notkirche erhielt ihren Standort auf dem enttrümmerten Grundstück Kaßbergstraße 19, direkt neben dem Pfarrhaus. Am 4. Dezember 1949 es war der 2. Adventssonntag konnte die Gemeinde in ihre provisorische Kirche einziehen. Sorgfältig und liebevoll ausgestaltet, bildete sie letztlich über 30 Jahre das Zentrum der Gemeindearbeit. Es war mit allem, für den Gottesdienst notwendigen Inventar ausgestattet. Später konnte sogar noch eine Kleinorgel mit zwölf Registern auf einem Manual und Pedal durch die Dresdner Firma Jehmlich aufgestellt werden. Es ist übrigens nicht ausgeschlossen, dass es noch weitere Notkirchen vom „Typ Chemnitz“ gegeben hat oder sogar noch gibt.
1979 – Die neue Dreieinigkeitskirche
Der Wiederaufbau der eigentlichen Kirche wurde über die Jahre hinweg nicht aus den Augen verloren. Die Pläne dazu lieferte der Architekt Dr. Georg Laudeley. In einer zurückhaltenden, modernen Form entstand unter Verwendung der alten Umfassungsmauern ein neuer Kirchenbau. Am 14. Oktober 1979 konnte die Gemeinde dorthin umziehen. Der Ersatzbau wurde trotzdem in den folgenden Jahren noch wei-ter benutzt als heizbare Winterkirche.
1993 – Leerstand und Verfall der Notkirche
Nach der Wende wurde es um die Notkirche zunehmend still. Das Gebäude war in die Jahre gekommen. Für eine so lange Standzeit war es ja im Grunde auch nicht ausgelegt. Entsprechend hoch war der Sanierungsbedarf. Die Gemeinde hatte allerdings keine Verwendung mehr dafür; der Bau hatte seinen Zweck erfüllt. So kam es 1993 schließlich zum Verkauf an einen Investor, der auf dem Grundstück eine „Kaßbergvilla“ errichten wollte, die 1996 bezugsfertig sein sollte. Allerdings erwies sich die „Villa“ bald als „Luftschloss“, denn außer dem Verfall der ehemaligen Kirche gab es keine sichtbaren Fortschritte. Inmitten des verwahrlosten Geländes bot das Gebäude einen trostlosen Anblick. Vandalismus und mutwillige Zerstörungen schädigten die Substanz zusätzlich. Der Einsturz schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein.
2009 – Demontage und Einlagerung
Der katastrophale Zustand des Gebäudes führte schließlich 2009 zur Demontage sowie zum Abbruch der massiven Bauteile wie Altarraum und Schornstein. Damit schien die Geschichte der einstigen Notkirche am Ende. Inzwischen hatte die städtische Denkmalpflege allerdings den stadtgeschichtlichen Wert erkannt. Seit 2001 ist das Bauwerk eingetragenes Kulturdenkmal der Stadt Chemnitz. Das führte dazu, dass wesentliche Konstruktionselemente beim Abbau nicht entsorgt wurden. Bei der Zimmerei Knauth in Rabenstein wurden sie fachgerecht eingelagert. Irgendwann würde man sie sicherlich noch einmal verwenden können…
2013 – Eine „Wegwarte“ für Chemnitz
Die Initiative zur Errichtung einer „neuen“ Holzkirche ging von den Chemnitzer Unternehmern Jörg Mierbach und Sven Schädlich aus, die dabei vom früheren Baubürgermeister Ralf-Joachim Fischer und zahlreichen Kooperationspartnern unterstützt wurden. Mehr zufällig wurden sie auf die eingelagerten Konstruktionsteile aufmerksam.
Es entstand die Idee, unter Einbeziehung der noch vorhandenen Materialien sowie originalgetreuer Rekonstruktion der fehlenden Elemente ein neues Gebäude zu errichten, das in seiner äußeren und inneren Erscheinung weitgehend der früheren Notkirche entspricht. Als Standort wählte man den südlichen Kaßberghang oberhalb des Kappelbachs. Hier, an der Ahornstraße, befand sich eine große Industriebrache, deren Gebäude früher den „VEB (Volkseigener Betrieb) Leuchtenbau Karl-Marx-Stadt“ beherbergten. 1996 gingen auch in der Lampenfabrik endgültig die Lichter aus und die Anlagen waren dem Verfall preisgegeben. Die Mierbach Wohnbau GmbH hatte das völlig verwahrloste Gelände 2007 mit dem Ziel der Revitalisierung erworben. Eine Filiale des Fahrradeinzelhändlers „Little John Bikes“ siedelte sich an und füllt das Areal seitdem mit vielfältigen Aktivitäten mit Leben. Der unmittelbar am Ge-lände vorbeiführende Radweg ergänzt die vorhandene Infrastruktur optimal. Was lag also näher, in diesem sich entwickelnden Stadtteil ein Restaurant mit ganz besonderem Profil zu etablieren? Die „Holzkirche“ (dieser Name hatte sich rasch eingebürgert) als künftiger Veranstaltungsort mit gastronomischem Angebot und Biergarten für durstige Radler das war die Idee, die in relativ kurzer Zeit konkrete Gestalt annahm. Am 1. August 2013 konnte das Restaurant eröffnet werden. Unter dem Namen „Wegwarte“ erfreute es sich sehr schnell großer Beliebtheit bei Einwohnerinnen und Einwohnern und Gästen unserer Stadt. Diskussionen gab es anfänglich darüber, ob die Umwandlung einer Kirche in ein Restaurant vertretbar und angemessen ist. In vielen Orten Europas gibt es inzwischen leerstehende, nicht mehr benötigte Sakralbauten, die man in entsprechender Weise nachgenutzt hat auch in Deutschland. Doch im Unterschied etwa zu den Restaurants „Die Kirche“ in Magdeburg oder „glückundseligkeit“ in Bielefeld war die sakrale Funktion der Chemnitzer Notkirche schon seit vielen Jahrzehnten beendet und die Kirchgemeinde hatte mit dem Verkauf des Gebäudes einen Schlussstrich unter dieses Kapitel ihrer Geschichte gezogen. Eigentlich gäbe es dieses Gebäude ja schon längst nicht mehr… Für den Neubau unter der Leitung von Gerd Jenkner konnten wesentliche Teile des früheren Tragwerks wiederverwendet werden insbesondere die für das innere Erscheinungsbild wichtigen Dreigelenkbinder. In aufwändiger Arbeit wurden sie durch die Firma Knauth aufgearbeitet und wo es nötig war ergänzt. Nahezu alle anderen hölzernen Bauteile mussten allerdings neu hergestellt werden. Großer Wert wurde dabei auf die originalgetreue Rekonstruktion etwa die abwechslungsreiche Oberflächenstruktur der Fassaden gelegt. Neu aufgebaut wurden außerdem die massiven Teile mit dem rückwärtigen Giebel und dem anschließenden ehemaligen Altarraum, von dem keine originalen Elemente mehr vorhanden waren. Für die neue Nutzung war ein Funktionsanbau notwendig, der unter anderem die Küche sowie Sanitäranlagen enthält und vom Architekturbüro Corina Krug entwickelt wurde. Mit großem Aufwand versuchte man, die originale Farbigkeit im Innenraum nachzuempfinden. An vielen Stellen der geborgenen Originalteile fanden sich Reste der einstigen Bemalung, die als Grundlage für die Neugestaltung dienten. So konnte ein in sich abgestimmter, durch den Kontrast von Rot- und Weißtönen festlich und einladend wirkender Raumeindruck gewonnen werden. Nicht wieder aufgenommen wurde dabei die ursprüngliche vorhangartige Ausmalung der Apsis, die noch zu Zeiten der Nutzung als Notkirche übertüncht wurde und auch im neuen Gebäude in einem neutralen Farbton gehalten ist. Ein besonderes Problem stellte sich bei der Verglasung: Die originalen Scheiben waren durchweg zerstört. Eine Rekonstruktion wäre sicherlich an Hand von Fotos möglich gewesen, doch entschied man sich, an dieser Stelle Künstlerinnen und Künstlern unserer Stadt eine Möglichkeit zur kreativen Gestaltung zu geben. Peter Kallfels, Jan Kummer, Osmar Osten, Lydia Thomas und Steffen Volmer schufen die Entwürfe für insgesamt 20 neue Glasmalereien, die anschließend in der Kunstglaserei von Andreas Gauser in Thalheim angefertigt wurden. Zahlreiche Chemnitzer Institutionen, Unternehmen, Handwerksbetriebe und nicht zuletzt auch Privatpersonen ermöglichten mit ihrer Spendenbereitschaft die Anschaffung dieser ganz besonderen Ausstattungsstücke. Ansonsten wurden weitere gestalterische Bezüge zur ursprünglichen sakralen Funktion des Vorgängerbaus bewusst vermieden.
2021 – Die Geschichte geht weiter…
Leider erwies sich das Konzept einer gastronomischen Nutzung über die Jahre hinweg als nicht tragfähig, so dass die „Wegwarte“ im Jahre 2017 ihre Pforten wieder schloss. Erneut wurde es still um das Gebäude, bis es durch die 2020 neu gegründete Saxum Stiftung übernommen wurde. Diese gemeinnützige Organisation hat sich die Förderung des zwischenmenschlichen Miteinanders auf die Fahnen geschrieben, wobei Kinder, Jugendliche und Senioren sowie Menschen mit geistigen oder körperli-chen Einschränkungen im Mittelpunkt stehen. Ihnen soll durch aktive Unterstützung

die Möglichkeit einer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden. Darüber hinaus fördert der Verein Kunst, Kultur und Religion ohne eine spezifische konfessionelle Bindung. Das Ganze steht in enger Beziehung zur körperlichen und geistigen Gesundheit. So bieten die „Holzkirche“ und ihr Umfeld in Zukunft auch Raum für die sportliche Freizeitgestaltung, ergänzt durch Angebote an vegetarischer Kost, wobei die dafür benötigten Pflanzen in einem eigens angelegten Kräutergarten selbst gezogen werden. So wird die alte Notkirche zur „Bühne, auf der das Leben wirklich stattfindet“, wie es die neuen Betreiber selbst formuliert haben.

Dr. Stefan Thiele
Kunstsammlungen Chemnitz Schloßbergmuseum
Stand 11.06.2021
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